Veröffentlicht: 24.05.2023,
Letzte Aktualisierung: 28.05.2025

Table.Media: Wie geht es Ihnen in diesen Tagen?
Can Dündar: Ich bin noch hoffnungsvoll. Vorsichtig hoffnungsvoll. Denn es ist noch nichts entschieden. Wir haben noch die Chance, zu gewinnen.
Sie sehen die Möglichkeit, dass Erdoğan am Sonntag tatsächlich verliert?
Drei Tage, das ist eine lange Zeit in der türkischen Politik. Und die Opposition tut ihr Bestes, um die Wahlen noch zu gewinnen. Ich denke, es ist noch immer Kopf an Kopf. Natürlich hat Erdoğan den großen Vorteil, alle staatlichen Akteure hinter sich zu haben – die Medien, die Gerichte und die Polizei. Viele Bürgermeister arbeiten als Parteibeamte. Deshalb ist es nicht einfach. Die Opposition fordert das ganze staatliche System heraus. Deshalb wird es so schwierig. Aber die Allianz der Opposition wird stärker. Erst heute hat sich vor ein paar Stunden eine weitere Partei dem Bündnis angeschlossen.
Wie bewerten Sie die aktuellen Veränderungen in Kemal Kılıçdaroğlus Kampagne – seine plötzlich unverhohlenen Drohungen gegenüber syrischen Flüchtlingen?
Leider ist das Flüchtlings-Problem zu einem Hauptthema der Kampagne geworden. Wir zahlen den Preis für den Flüchtlings-Deal mit Deutschland. Das Problem war da, und es war vorhersehbar, dass es hochkocht. Dieses Land kann nicht so viele Menschen aufnehmen. Die sozialen Strukturen wurden vergiftet und die wirtschaftliche Krise verstärkt.
Was ist denn die Lösung? Die Menschen einfach zurückschicken?
Ich denke, die CHP – die Sozialdemokraten – sollten eine deutliche Position für mehr Menschenrechte ergreifen. Aber auch sie müssen zuallererst Erdoğan loswerden, also es ist eine schwierige Lage. Verhandlungen mit der syrischen Regierung scheinen unvermeidbar, um eine Lösung zu finden. Erdoğan hat sich dem entgegengestellt. Ich hoffe, die neue Regierung findet eine diplomatische Lösung für die Krise.
Aber glauben Sie, für Kılıçdaroğlus Kampagne ist es der richtige Weg, um zu gewinnen?
Diese fast feindliche Einstellung gegenüber den Flüchtlingen macht mir Angst. Sie beschuldigen die Regierung, zu viele Flüchtlinge aufzunehmen. Das ist ein reales, großes Problem. Aber es für politische Zwecke zu benutzen und die Flüchtlinge als den Grund des Problems darzustellen, ist falsch. Natürlich ist das Problem eigentlich größer, ein globales Problem und sollte mit den anderen EU-Staaten zusammen gelöst werden. Aber leider hat der Flüchtlingsdeal Erdoğan Geld gegeben, um die Flüchtlinge von Europa fernzuhalten und das ist leider das Ergebnis.
Bedeutet ein Sieg Kılıçdaroğlus wirklich einen Wandel für die Türkei oder ist er nur das kleinere Übel?
Unsere erste Priorität ist es, Erdogan loszuwerden. Viele Menschen in der Türkei denken, dass jeder, der gegen ihn antritt, unterstützt werden sollte. Egal wer. Es gibt einen Witz, der sagt, wir würden auch für eine Plastikflasche stimmen, solange es nicht Erdoğan ist. Eine Koalitionsregierung ist nicht die beste Option für die Zukunft der Türkei. Jeder sieht Vor- und Nachteile. Aber viele Menschen denken, dass es nicht die Zeit ist, über die Unterschiede zu diskutieren. Sondern dass es die Zeit ist, zusammen die Autokratie zu überwinden. Und dann muss man weitersehen.
Was ist, wenn das nicht klappt und Erdoğan gewinnt?
Dann würde er sicherlich sein hartes Vorgehen gegen die Opposition noch verstärken und die Wirtschaft würde in eine schrecklich schwierige Situation geraten. Der Brain-Drain nach Europa würde noch stärker werden. Der Slogan der Opposition ist: Der Frühling kommt. Wenn Erdoğan gewinnt, wird das Gegenteil der Fall sein, dann wird der Winter kommen.
Also sie erwarten, dass Erdoğan sich durch das Ergebnis noch stärker fühlen und gegen die, die er als seine Feinde sieht, noch stärker ausholen wird?
Ja, ich habe ihn lange beobachtet, ein Buch über ihn und seine Lebensgeschichte geschrieben. Ich schätze ihn nicht als jemanden ein, der, wenn er merkt, dass fast die Hälfte der Menschen gegen ihn gestimmt hat, denkt, vielleicht sollte ich meinen Kurs etwas mildern. So ein Mensch ist er nicht. Er wird mit mehr Härte, mit mehr Aggression reagieren.