Veröffentlicht: 20.10.2021,
Letzte Aktualisierung: 11.03.2024
Viel hilft viel – nach diesem Motto geht die brandneue „Initiative Fair Lesen“ vor, die einen großen Teil der Spiegel-Bestsellerliste vereint – von Johanna Adorján bis Juli Zeh. Am Wochenende veröffentlichte sie doppelseitige Anzeigen in Frankfurter Allgemeiner und Süddeutscher Zeitung – und lancierte zeitgleich Berichte im „Spiegel“, im „Heute-Journal“ und bei vielen anderen Medien. Kein Wunder: Hinter der Initiative steht der kampagnenerpobte Börsenverein des Deutschen Buchhandels.
Wer sich den offenen Brief unter dem Titel durchliest, reibt sich verwundert die Augen: Nicht etwa die Dominanz von Amazon oder der desaströse Papiermangel zum Weihnachtsgeschäft sind Ziel des dringenden Appells, sondern Leihbibliotheken. „Heute sind wir in Sorge, dass die Politik unsere Arbeitsgrundlage aufs Spiel setzt – durch Bestrebungen, mit dem Zugang zu Literatur zugleich digitale Ausleihe zu Niedrigpreisen zu erzwingen„, heißt es darin.
Noch verwunderter ist man, wenn man sich ansieht, was „die Politik“ tatsächlich macht: SPD und Union hatten im nun abgelaufenen Koalitionsvertrag allenfalls vage Verbesserungen beim E-Book-Verleih angekündigt. Der Bundesrat wollte schließlich Verleger verpflichten, ein Nutzungsrecht „zu angemessenen Bedingungen“ einzuräumen. Und scheiterte damit. Bibliotheken dürfen auch weiterhin erst E-Book-Lizenzen zu erhöhten Preisen kaufen, wenn die Verlage diese ihnen anbieten. Gar nicht zur Debatte stand, dass Bibliotheken deutlich mehr zahlen als Normalbürger und eine Kopie eines E-Books auch nicht zweimal gleichzeitig verleihen dürfen.
Ob es eine Neuauflage der Gesetzesinitiative gegeben hätte, steht alles andere als fest. Von den Ampel-Koalitionären hatten alleine die Grünen den E-Book-Verleih in ihr Wahlprogramm gehoben. Mit der neuen Kampagne hat der Börsenverband genau das erreicht, was er eigentlich vermeiden wollte: Die Forderungen der Bibliotheken, zumindest einzelnen Lesern Bestseller auch am Erscheinungstag anzubieten, wurde neue Öffentlichkeit gegeben – genau zu der Zeit, in der sich die zuständigen Bundestagsausschüsse konstituieren. Die neuen Abgeordneten und die Verhandler des Koalitionsvertrags können sich nun überlegen, ob sie der Spiegel-Bestsellerliste oder den 7,4 Millionen Deutschen mit Bibliotheksausweis zuhören wollen.
Viel hilft viel, sagt man ja – manchmal aber auch den anderen. Torsten Kleinz