Veröffentlicht: 17.01.2024,
Letzte Aktualisierung: 30.05.2025

Nicolas Schmit wird der dritte Politiker sein, den die europäische Parteienfamilie der Sozialisten (SPE) als Spitzenkandidaten in die Europawahl schickt. Vor ihm traten zwei Politiker an, die Talent zum Volkstribun hatten: Der Deutsche Martin Schulz war 2014 der oberste Wahlkämpfer der Sozialisten, 2019 war der Niederländer Frans Timmermans im Rennen. Im Vergleich zu den beiden Vorgängern tritt der Luxemburger Schmit weniger kämpferisch auf.
Führende Sozialdemokraten machen jetzt, da die Führungsrolle von Schmit im bevorstehenden Europawahlkampf so gut wie feststeht, auch kein Hehl daraus: Sie wissen, dass der 70-Jährige eher ein Mann der ruhigen Töne ist. Wenn Parteichef Stefan Löfven, selbst ein eher bedächtig auftretender Politiker, eine Rampensau suchen würde, würde seine Wahl nicht auf den seit 2019 amtierenden Sozialkommissar fallen.
Dass die Sozialisten Schmit am 2. März bei ihrem Wahlkongress in Rom zum Spitzenkandidaten wählen, das hat auch etwas mit mangelnden Alternativen zu tun. Die Stellenausschreibung der Sozialisten sah eher eine Frau vor, möglichst mit Regierungserfahrung und jung. Doch diejenige, die diese Attribute verkörperte und lange als geborene Spitzenkandidatin aussah, ist zur Enttäuschung vieler Genossen abgebogen und hat die Politik verlassen: Sanna Marin – bis zum Sommer Regierungschefin in Finnland und Vorsitzende der sozialistischen Partei Finnlands – hat kein Interesse mehr am Politikbetrieb und arbeitet jetzt für den Thinktank des ehemaligen britischen Premierministers Tony Blair. Wenn heute Nacht zum Donnerstag die Bewerbungsfrist der SPE ablief, wird Schmit der einzige Bewerber sein. Beharrlichkeit zahlt sich aus: Er hatte frühzeitig hinter den Kulissen deutlich gemacht, dass ihn der Job interessiere.
Tatsächlich bringt der verheiratete Vater mehrerer Kinder Qualitäten mit, mit denen er im Wahlkampf punkten kann. Als Sozialkommissar seit 2019 in der Von-der-Leyen-Kommission steht er für Kernthemen der Partei: Er wird für sich in Anspruch nehmen, das Wahlversprechen der Sozialisten aus dem letzten Wahlkampf umgesetzt zu haben: einen europäischen Mindestlohn. Dass der EU-Mindestlohn niemals in Euro und Cent ausgewiesen werden wird, wie etwa in Deutschland, dass die skandinavischen Länder nicht mitmachen müssen – diese Spitzfindigkeiten werden dann vermutlich untergehen. Bisher hatte die EU-Kommission tatsächlich wenig Kompetenzen in der Sozialpolitik.
Schmit wird für sich reklamieren, einen Paradigmenwechsel in der EU-Politik hin zu mehr Sozialpolitik eingeleitet zu haben. Federführend hat der Sozialkommissar auch den Gesetzgebungsvorschlag zur Regulierung der Plattformarbeit vorangetrieben. Das Dossier, das gerade festgefahren ist, will die Rechte stärken von Mitarbeitern, die häufig auf prekärer Basis und als Scheinselbständige Geld für Uber und andere Plattformen verdienen. Jens Geier, Chef der deutschen SPD-Abgeordneten im Europaparlament: „Nicolas Schmit ist Mister Mindestlohn und eines der stärksten Mitglieder der Von-der-Leyen-Kommission.“ Schmit hat zudem die alte Kernkundschaft der Sozialisten besser im Blick als manche seiner Genossen: Er besuchte mit dem CDU-Sozialexperten Dennis Radtke Thyssen im Ruhrgebiet und machte sich ein Bild davon, wie es um die Industriearbeitsplätze steht.
Als Luxemburger bringt Schmit zudem Qualitäten mit, die ihn nicht nur als Mister Mindestlohn, sondern auch als Mister Europa ausweisen. Seit seinem ersten Job, den er 1979 nach seiner Promotion in Betriebswirtschaftslehre angetreten hat, ist er entweder in der EU-Politik unterwegs oder in der nationalen luxemburgischen Politik. Und die ist wiederum eng mit der EU-Politik verwoben. So war er, der auch noch einen Master in französischer Literatur hat, Berater der Regierung Luxemburgs, als 1990 und 1991 die zwischenstaatliche Konferenz zu den Maastricht-Verträgen tagte. Als ein Jahrzehnt später der Vertrag von Nizza ausgehandelt wurde, diente er dabei als der persönliche Repräsentant des luxemburgischen Premierministers.
Dessen Name war Jean-Claude Juncker, ein Christdemokrat und der spätere Kommissionspräsident. In der DNA luxemburgischer Politiker ist das Gen für die Arbeit über Parteigrenzen verankert. Juncker und Schmit haben eine weitere Geschichte miteinander: Vor der Wahl 2014 war Schmit Anwärter seines Landes für den Posten in der EU-Kommission. Dann trat Juncker als Spitzenkandidat an, gewann die Wahl und zog als Kommissionspräsident in die oberste Etage im Berlaymont ein. Schmit hatte das Nachsehen.
Diesmal könnte es einen anderen Luxemburger treffen. Die neu amtierende luxemburgische Regierung unter dem Christdemokraten Luc Frieden hat den ehemaligen EVP-Europaabgeordneten Christoph Hansen bereits für die nächste Kommission nominiert. Angesichts der Umfragen ist zwar wenig wahrscheinlich, dass Schmit die Wahl gewinnt und Anspruch auf den Chefposten erheben kann. Doch bei der Vergabe der Topjobs würde der Zweitplatzierte zum Zuge kommen, etwa als Außenbeauftragter. Womöglich hat er dieses Amt auch schon im Blick: Als langjähriger Diplomat, verhandlungssicher in Französisch, Deutsch und Englisch wäre er dafür durchaus qualifiziert. Markus Grabitz